Erinnerungsmittler erzählen

9 Biografien von Überlebenden und Opfern:
In Gedenken derer, die Ihre Geschichte nicht mehr erzählen konnten oder auch wollten…

Das „Projekt“

Im Sommer des Jahres 2023 haben wir uns im Vereinsvorstand mit den vielen Anfragen einzelner Familien zu Informationen über deren Vorfahren befasst. Die Geschehnisse der Zeit der NS-Verfolgung waren immer ein äußerst wichtiger, umfänglicher Teil unserer Arbeit. Jedoch gab es recht viele „Leerstellen“.

Mit finanzieller Unterstützung der „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ wurde es uns dann ermöglicht, gemeinsam mit und durch Menschen aus der Community, sowie auch mit verschiedenen Akteuren der Dominanzgesellschaft, den nach der „Befreiung“ aus den Konzentrationslagern fortwährenden Antiziganismus in Deutschland anhand von Biografien aus Ostfriesland in „neuer“ Form kommunizieren, reflektieren und vermitteln.

Das Projekt sollte, unter Nutzung der 2021 gefundenen Aufzeichnungen im Konzentrationslager Auschwitz, eine doch empfindliche Lücke in den Biografien der Familien aus der Minderheit schließen und dieses neue Wissen als Initialimpuls zur Entwicklung neuerer Zugänge zur Geschichte und zur politischen Bildungsarbeit zum Thema Sinti und Roma dienen.

Basierend auf den Namen der NS-Verfolgten Sinti und Roma im Weser-Ems-Gebiet konnten wir nun biografische Skizzen erarbeiten, deren Darstellung in Programmen für Vorträge und Workshops der breiten Öffentlichkeit und der Minderheit künftig zugetragen werden.

Mit der genaueren Kenntnis der NS-Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma, den Vorläufern und ihrer Nachgeschichte nach 1945 im Weser-Ems-Gebiet, ergaben und ergeben sich zahlreiche neue Anknüpfungspunkte der Vermittlungsarbeit mit und in der Community.

Gemeinsam ist dieses Projekt und dessen Ergebnis ein innovativer und kreativer neuer Ansatz im Rahmen der Vermittlungs- und Bildungsarbeit. Im Zusammenhang mit bisherigen Vorgehensweisen in dieser Arbeit sollen die Ergebnisse gerade auch die nachfolgenden Generationen sowie auch die mehrheitsgesellschaftlichen Akteure in eine neuere, weitere Art von Partizipation miteinander führen.

Sinti und Roma leben seit Jahrhunderten in Europa. In ihren jeweiligen Heimatländern bilden sie historisch gewachsene Minderheiten, die sich selbst Sinti oder Roma nennen, wobei Sinti die in West- und Mitteleuropa beheimateten Angehörigen der Minderheit, Roma diejenigen ost- und südosteuropäischer Herkunft bezeichnet. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird Roma als Name für die gesamte Minderheit verwendet.

In Deutschland sind Sinti und Roma seit über 600 Jahren beheimatet. Erstmals wurden sie 1407 in der Bischofsstadt Hildesheim urkundlich erwähnt. Neben Deutsch sprechen sie als zweite Muttersprache die Minderheitensprache Romanes. Die deutschen Sinti und Roma leben im gesamten Bundesgebiet.

Während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren die Sinti und Roma Verfolgung und Völkermord ausgesetzt – in Deutschland, den deutsch besetzten Gebieten und den mit Hitler verbündeten Staaten. Etwa 500.000 Sinti und Roma fielen dem „Rassenwahn“ der Nationalsozialisten und dem an ihnen systematisch geplanten Völkermord zum Opfer, ihr kulturelles Erbe wurde hierbei zu einem großen Teil zerstört.

Nur wenige überlebten, fanden jedoch auch nach der Befreiung nicht die gewünschte Freiheit, Anerkennung und Akzeptanz im Nachkriegsdeutschland. Stattdessen erlebten sie wieder Ausgrenzung, Diskriminierung und Ausschluss aus der Gesellschaft.

Dies setzt sich bis zum heutigen Tage fort und die Angehörigen dieser anerkannten nationalen Minderheit erfahren bis zum heutigen Tage weiter Ausgrenzung, Diffamierung und eine teils verwehrte Teilhabe in unserer Gesellschaft.

Beginnend mit Befreiung wurden weiterhin vielen Überlebenden Rechte abgesprochen und fortwährende Ausgrenzung, teils auch durch staatliche Institutionen, angetan. Allein die Anerkennung des Völkermordes wurde erst im Jahr 1982 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt ausgesprochen. Entschädigungsleistungen, wie sie andere verfolgte Menschen nach 1945 erhielten, wurden den Überlebenden dann, wenn auch nur teilweise und zögerlich, gewährt. Auch die rechtliche Anerkennung in Deutschland, eine der vier anerkannten Minderheiten zu sein, kam erst in den 90er Jahren und ist vielen Mitbürgern bis heute nicht bekannt.

Die vielen eigenen Selbstorganisationen der Minderheit, wie der Zentralrat Deutscher Sinti in Heidelberg sowie eine Vielzahl von Landesverbänden und Vereinen in den einzelnen Bundesländern, versuchen durch ihr Wirken den Antiziganismus in unserer Gesellschaft zu bekämpfen, der den Menschen aus der Minderheit fast tagtäglich begegnet.

Es gibt immer noch die Notwendigkeit zum Aufbegehren gegen Ausgrenzung und Diskriminierung sowie den Bemühungen um den Erhalt der eigenen kulturellen Werte.

Mögen diese Erinnerungen einen Teil dazu beitragen…

In Jeeder Nacht… (Verdichtung eines Albtraumes)
von Günter Neuzeroth / 1985

„In jeeeder Nacht bin ich wieder in Neuengamme, in Auschwitz-Birkenau und in den nassen Stollen von Nordhausen.
In jeeeder Nacht, ohne Ausnahme, fahre ich im Alptraum aus dem Schlaf schreiend hoch auf meinem Bett.
Du kannst meine Frau fragen, ob das stimmt!
Und bin mal hier mal dort oder wo anders in der Hölle.
In Jeeeder Nacht spüre ich wieder den stechenden Schmerz von den Ochsenziemer
Schlägen in Nordhausen und Birkenau auf meinem Rücken, den Hunger von einst in
meinem Bauch und die Angst von damals in meiner Brust.
Ich sehe wieder vor meinen Augen den rötlichen Rauch über den Schornsteinen der
Krematorien von Birkenau aufsteigen und habe wieder den süßlichen Geruch von verbranntem
Menschenfleisch in meiner Nase, und ich zittere dann wieder dabei am ganzen Leib wie damals;
Du kannst meine Frau fragen, ob das stimmt!
Alles ist dann wieder da! Immer noch nach über 40 Jahren kommt alles wieder zurück. In jeeeder Nacht!
Du kannst meine Frau fragen, ob das stimmt!
Alles ist noch da! Nichts ist vergessen und nichts ist vergangen!
Und ich frage meinen Sinto-Freund in dieser Nacht, als er mit seinem Monolog am Ende angelangt war: „Wie kannst du denn mit so etwas in dir überhaupt leben?“
So muss und kann ich leben! Und was in der Nacht bei mir los ist, weißt du ja jetzt!“

Biografien

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