80. Jahrestag des „Auschwitz-Erlasses“

Am 14.12.2022 reisten Vertreter des 1. Sinti Verein Ostfriesland e.V. auf Einladung des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma nach Berlin, um an einem umfangreichen Programm zum Gedenken an den „Himmler-Erlass“ teilzunehmen.

Beginnend mit der Vorführung des Filmes „Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“ nahmen wir an dem interessanten Podiumsgespräch zwischen dem Filmemacher Herrn Peter Nestler und Herrn Romani Rose teil. Im anschließenden Austausch der Besucher untereinander konnten wir uns auf das bevorstehende Gedenken an den „Auschwitz-Erlass“ einstimmen.

Am Folgetag, dem 15.12.2022 besuchten wir dann gemeinsam mit dem Zentralrat die „Gedenkveranstaltung für die Opfer des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma“ in der Gedenkstätte Sachsenhausen. Anlässlich des 80. Jahrestages der Unterzeichnung des sogenannten „Auschwitz-Erlasses“ durch Heinrich Himmler, gedachten wir dort, gemeinsam mit einer Vielzahl weiterer Gäste, den Opfern des nationalsozialistischen Völkermordes an den Sinti und Roma, dem über Fünfhunderttausend Angehörige der Minderheit aus ganz Europa zum Opfer fielen. An diesem Gedenken nahmen neben den Vorständen der Landes- und Mitgliedsverbände des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma auch die Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, der brandenburgische Kultur- und Wissenschaftsstaatssekretär Tobias Dünow und der Stiftungsdirektor Axel Drecoll teil. Besonders die Teilnahme von Alma Klasing, Dieter Flack und Albert Wolf, die den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti und Roma überlebt haben, beindruckte die anwesenden Gäste sehr. Staatsministerin Claudia Roth, Romani Rose, Staatssekretär Tobias Dünow, Landtagsvizepräsidentin Barbara Richstein sowie zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Gesellschaft legten am zentralen Gedenkort „Station Z“ anschließend Kränze nieder.

In ihrer Ansprache sagte Kulturstaatsministerin Claudia Roth: „Wir brauchen mehr Miteinander, mehr kulturelle und politische Bildung und mehr Sichtbarkeit des so großen kulturellen Reichtums von Sinti und Roma. Vor allem aber brauchen wir Anerkennung und Gleichberechtigung. Gemeinsam mit der Community der Sinti und Roma, mit Akteur*innen der Zivilgesellschaft und engagierten Vertreter*innen der Länder und Kommunen werde ich auch weiterhin alles für eine umfassende Gleichberechtigung der Sinti und Roma tun.“

Romani Rose mahnte: „Beim Gedenken und Erinnern heute, mehr als fünfundsiebzig Jahre nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, geht es nicht darum, der heutigen Generation in Deutschland Schuld zu übertragen. Der Sinn des Erinnerns besteht vielmehr in der gelebten Verantwortung für die Gegenwart und für unseren demokratisch verfassten Rechtstaat. In Deutschland ist politisch in den vergangenen Jahrzehnten aufgrund der beharrlichen Arbeit des Zentralrats sehr viel erreicht worden: sowohl der Holocaust an den Sinti und Roma als auch der Antiziganismus als gesamtgesellschaftliche Bedrohung sind mittlerweile anerkannt und die demokratischen Parteien haben sich diesem lange verdrängten Teil der Geschichte gestellt. Dennoch sind viele Sinti und Roma davon überzeugt, dass sie ihr Leben nur dann frei gestalten können, wenn sie sich in die Anonymität zurückziehen. Die Ursachen dafür liegen im Antiziganismus. Seine Ächtung ist nicht die Aufgabe der Minderheit selbst. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft und ihrer Institutionen, denn wir sind gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger unserer europäischen Heimatländer, in denen wir Staatsbürger sind und in denen wir seit Jahrhunderten leben.“

Staatssekretär Tobias Dünow sagte: „Ausgrenzung – das war für Sinti und Roma in Deutschland nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Nicht nur zwischen 1933 und 1945, sondern schon in den Jahrhunderten zuvor, und auch danach. Es ist der Bürgerrechtsbewegung um Romani Rose zu verdanken, dass wir mittlerweile – viel zu spät – an diese Verbrechen der Nationalsozialisten erinnern. Diese Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma war und ist ein unglaublicher Akt des Mutes und der Selbstbehauptung gegen Hass, Ignoranz und Arroganz.“

Stiftungsdirektor Axel Drecoll ergänzte: „Auch im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik prägten über Jahre und Jahrzehnte Vorurteile, Diffamierungen und Benachteiligungen die gerichtliche und behördliche Praxis. Die meisten überlebenden Sinti und Roma waren nach 1945 eben keine Berechtigten und Gleichberechtigten, sondern blieben lange Zeit Opfer staatlich betriebener und sanktionierter Unrechtspolitik. Bis heute gehören gesellschaftliche Diskriminierung und Übergriffe zum traurigen Alltag der Sinti und Roma. Umso wichtiger ist es, hier und heute der Opfer zu gedenken, die Überlebenden zu ehren und die Verbrechen aufzuarbeiten. Der Blick in die Vergangenheit kann und muss dazu dienen, die fundamentale Bedeutung von gegenseitigem Respekt und Solidarität in Gegenwart und Zukunft besonders hervorzuheben. Nur so ist gewährleistet, dass die Würde jedes Menschen tatsächlich unantastbar ist und dass wir Vielfalt nicht nur respektieren, sondern als Existenzgrundlage und Lebenselixier unserer Gesellschaft begreifen.“

Am Folgetag besuchte dann die Abordnung des Zentralrates die Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundesrat in Berlin. Auf dieser Veranstaltung hielt der amtierende Präsident des Bundesrates, Herr Tschentscher eine sehr emotionale und respektvolle Ansprache zur Erinnerung und Verantwortung dieses Anlasses. Anschließend fanden sich mehrere Ministerpräsidenten der Länder mit den Vertretern des Zentralrates zu einem Gespräch zusammen und erörterten die geschichtliche Verantwortlichkeit zum Thema Verfolgung, Ausgrenzung und Antiziganismus in Deutschland.

Hintergrund:

Vor 80 Jahren, am 16. Dezember 1942, unterzeichnete Heinrich Himmler den sogenannten „Auschwitz-Erlass“, der die Deportation von Sinti und Roma aus ganz Europa in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau anordnete. Darunter waren auch 10.000 deutsche Sinti und Roma aus dem damaligen Reichsgebiet. Insgesamt wurden im besetzten Europa mehrere Hunderttausend Sinti und Roma in Konzentrationslagern oder durch Einsatzgruppen der SS ermordet. Im Konzentrationslager Sachsenhausen waren mehr als 1.000 Sinti und Roma inhaftiert.